Mit der Zeit verändert sich der Blick auf das Laufen.
Langsam verblassen in der Erinnerung die bangen Stunden vor den ersten langen Distanzen; die Sorgen um das “ist es überhaupt möglich”, um das “an was muss ich alles denken”. Das bedeutet keinesfalls, dass eine saubere Planung für manche Touren nicht auch heute noch essentiell ist und mit viel Sorgfalt begangen wird. Aber es ist weniger hektisch. Die Handgriffe sind routiniert. Der Schrecken der durch äußere Unwägbarkeiten oder individuelle Fehler schnell präsent sein kann, hat etwas an Kraft verloren.
Es ist beim Laufen ein Tempo (wenn auch ein eher gemütliches) und eine Einstellung gefunden, die ein Gegengewicht zu dem körperlichen und seelischen Stress bildet, der mit einem sehr langen Lauf zwangsläufig einhergeht. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. In diesem Wohlfühlbereich lassen sich auch lange Distanzen laufen, ohne weit über die gefühlten körperlichen Grenzen gehen zu müssen. Die Regenerationszeit verkürzt sich auf ein Minimum verglichen mit dem, was früher zu erdulden war. Der Tag nach einem 100 km-Lauf ist vom Gefühl her meist schon wieder laufbar. Auch wenn der Drang danach nicht zu groß ist – die seelische Erschöpfung ist nach wie vor vorhanden.
Laufen auf den langen Strecken bleibt ein Bewegen zwischen den Welten. Obwohl manche Distanzen zu Beginn unfassbar weit und unerreichbar scheinen – so ist doch auch irgendwo im Hinterkopf die Gewissheit, dass es gehen könnte. Obwohl die Nächte noch immer endlos sind, wächst ein Vertrauen, dass doch sehr oft die Sonne tatsächlich wieder aufgehen könnte. Es klappt nicht jedes Mal, aber es hat dann doch auch schon einige Male geklappt.
Das Erreichen des Ziels bei lange Laufen ist und bleibt ein Drahtseilakt. Man ist doch immer ein Stück gefangen zwischen guten und schlechten Tagen, guten und schlechten Strategien und Entscheidungen – sowohl in der Vorbereitung als auch im Rennen selbst. Wenn man sich aber für einen Moment auf den Boden legt (wörtlich nehmen sollte man dies nur bei Läufen im Sommer – besonders hervorragend funktioniert dies mit guten Freunden auf dem Külf beim STUNT100) und sich dieses Seil etwas genauer anschaut so sieht man, dass es tatsächlich nicht mehr so dünn erscheint wie es zweifelsohne am Anfang der ganzen Lauferei mal erschien. Es ist zusammengesetzt aus vielen kleinen Fasern, die helfen können Vertrauen in die eigene Kraft und das eigene Leistungsvermögen aufzubauen. Es scheint fast mit jedem absolvierten Balanceakt ein wenig stabiler zu werden. Jede positiv getroffene Entscheidung stärkt, jede negative Situation hilft in mindestens gleichen Maße für die Zukunft. Viel mehr als bei kürzeren Distanzen hilft die so gesammelte Erfahrung und macht zu einem nicht zu unterschätzenden Teil in den entscheidenden Momenten den Unterschied zwischen Scheitern und Ankommen aus.
Viele Ultraläufer berichten vom endlosen Glück, welches hinter dem Schmerz liegt. Von purer Freiheit und dem reinen Flow nach der absoluten Erschöpfung. Davon, dass es ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach wieder möglich ist, es laufen zu lassen. Diesen Punkt hat der Pfadsucher noch nicht wirklich gesehen. Vielleicht kommt der Moment eines Tages. Und falls nicht, so tröstet die Gewissheit, dass selbst die längste und schwerste Nacht irgendwann einmal weichen muss und dass der Morgen danach umso schöner sein wird.
“The day you stop racing, is the day you win the race” Bob Marley